Aufwühlende Wahrheiten: "Grenzgänger" von Mechtild Borrmann

Grenzgänger von Mechtild Borrmann

 

"Grenzgänger" ist der dritte Roman von Mechtild Borrmann, den ich gelesen habe. Er stand schon länger auf meiner To-read-Liste. Er schien mir wie ein Buch, das man nicht nebenbei liest. Nicht als Einschlaflektüre. Es war mir intuitiv klar, dass das Lesen Fragen aufwerfen wird. Dass die Beschäftigung mit dem Thema nicht endet, wenn die Buchdeckel zusammenklappen. Emotional dicht und aufwühlend - so würde ich diesen Roman beschreiben - der leider nicht nur auf Fiktion basiert.

Die Handlung

Henni Schöning ist die Hauptperson in diesem Roman. "Lange hat sie die Balance gehalten, indem sie jedem Gramm Lebensfreude das doppelte Gewicht zusprach", heißt es im Buch. Doch sie verliert früh ihre Mutter durch eine zu spät entdeckte Eileiterschwangerschaft und die harte Arbeit. Henni versucht, sich und ihre Geschwister durchzubringen. Sie hat es schließlich ihrer Mutter versprochen. Ihr Vater driftet - kriegstraumatisiert - in eine religiöse Besessenheit ab, die ihn so weit vor der realen Welt flüchten lässt, dass er die Bedürfnisse seiner Kinder nicht wahrnimmt. Aus der Verzweiflung heraus, etwas zum Essen besorgen zu müssen, schließt sich Henni den Kaffee-Schmugglern an der belgischen Grenze an, was eine ganze Weile gut geht. So kann sich die Familie Butter und Brennholz leisten, was immer mehr fragende Blicke erzeugt. Mit den Jahren wird gegen die Schmuggler härter vorgegangen, so dass sich niemand mehr traut. Außer Henni, die das Moor wie ihre Westentasche kennt. Sie nimmt ihre Geschwister mit, um möglichst viel Kaffee transportieren zu können - und wird erwischt. Ihre Schwester wird dabei von einem Zöllner erschossen. Als Folge davon landen die Brüder im Heim und sie in einer Besserungsanstalt. 

 

Ihr Vater erlaubt ihr keinen Kontakt zu den Brüdern, ja sie bekommt erst viel später heraus, dass ihr Bruder Matthias unter mysteriösen Umständen im Heim gestorben ist. Fred, der andere Bruder, meldet sich erst viele Jahre später bei ihr, als sie verheiratet ist und in der Gärtnerei ihres Mannes mitarbeitet. 

 

Es folgt ein Gerichtsprozess, indem die Todesursache des Matthias Schöning geklärt werden soll. Fred klagt die Heimschwestern an, sie hätten ihn umgebracht, indem sie ihn in ein dunkles Loch geworfen hätten, wo er sich die todbringende Lungenentzündung geholt habe. Dies sei geschehen, nachdem die Heimleitung davon erfahren habe, dass die Jungs nach Italien hätten abhauen wollen. Sowohl die Ordensschwester als auch der Vater halten aber so an ihren Aussagen fest, dass der Fall nicht aufgedeckt werden kann. Henni droht beiden, sie werden schon noch ihre gerechte Strafe bekommen. Wenig später sind beide tot - die Ordensschwester vor einen Zug geschubst und der Vater bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen

 

Henni wird als Hauptverdächtiger der Prozess gemacht. Aber war sie es tatsächlich? Kann ihre alte Freundin und Nachbarin Elsa Brennecke dabei helfen, den Fall aufzuklären? Und gibt es überhaupt so etwas wie Wahrheit oder Gerechtigkeit?

Themen und Botschaft

 

Es geht um ein düsteres Kapitel deutscher Geschichte. Nämlich die Nachkriegszeit in deutschen Kinderheimen. Prügel, Weggesperrt-werden, das eigene Erbrochene essen müssen. Leider keine Erfindung der Autorin, sondern belegte Zeitgeschichte. Ein Stück Geschichte, für das man sich schämen muss. Wo man sich klar machen muss, dass es sehr viele Betroffene gibt, von denen wohl die allermeisten ihr Leben lang geschwiegen haben. Wie kann jemand gleichzeitig sein Leben Gott geweiht haben und in seinem Namen solche Grausamkeiten verüben? 

 

Es geht darum, was Kinder tun, wenn die Eltern sie im Stich lassen - nämlich frühzeitig erwachsen werden und viel zu früh eine Verantwortung übernehmen, der sie nicht gewachsen sind

 

Auch das Thema Kriegstrauma wird anhand von Hennis Vater thematisiert. Er kommt aus dem Krieg arbeits- und lebensunfähig zurück. Hilfe bekommt er nicht. Von Traumatherapie spricht damals noch niemand. 

 

Auch das Rechtssystem wird im Buch kritisch betrachtet: Wie findet man die Wahrheit heraus? Woran bemessen sich gerechte Strafen? Lässt sich überhaupt Gerechtigkeit herstellen? Ist eine Straftat weniger strafbar, weil sie aus Not heraus passiert ist? Oder weil viele andere sie auch begangen haben? 

 

Zudem spielt der schöne Schein nach außen, der das wahre Sein verdeckt, eine große Rolle. Wem spielen wir eigentlich etwas vor? Welche Rolle spielen wir? 

Für wen ist dieses Buch geeignet

  • Menschen, die sich für die Nachkriegszeit interessieren
  • Leser, die Krimis mit Tiefgang mögen
  • All diejenigen, die sich nicht scheuen, in menschliche Abgründe einzutauchen

Zur Autorin Mechtild Borrmann

Mechtild Borrmann wurde 1960 in Köln geboren. Sie ist ausgebildete Erzieherin, Gestalttherapeutin sowie Tanz- und Theaterpädagogin. Fünf Jahre lang betrieb sie zudem ein Restaurant in Bielefeld. 2006 erschien ihr Debütroman "Wenn das Herz im Kopf schlägt". 2012 erhielt sie den Deutschen Krimi-Preis für ihren Roman "Wer das Schweigen bricht". Auch ihre Bücher Trümmerkind und Feldpost sind sehr bekannt und standen monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste.  

Fakten zum Buch "Grenzgänger"

  • Erscheinungsdatum: 02.12.2019
  • Verlag: Droemer Knaur GmbH, München
  • Autorin: Mechtild Borrmann
  • Taschenbuch
  • Umfang: 288 Seiten
  • ISBN: 978-3426306086
  • Preis: 10,99 Euro

Mein Fazit

Mechtild Borrmann verwebt meisterhaft verschiedene Erzählstränge. Sie kreiert ein Werk, das zutiefst emotional berührt, Gänsehaut macht, Mitleid erweckt und eine tiefe Traurigkeit und Scham hinterlässt. Wie oft wurde wohl weggesehen? Wie oft wurden wohl Kinder im Stich gelassen? Und direkt schließt sich für mich die Frage an: Wo ist das - in vielleicht etwas veränderter Form - immer noch so? Wo trauen wir uns nicht, das System zu kritisieren? Wo schaffen wir es nicht, aufzubegehren? Wo lassen wir die Kleinsten und/oder Schutzlosesten in unserer Gesellschaft im Stich? 

 

Für mich ist dieses Buch mehr als ein gelungener Kriminal-Roman. Es ist ein Manifest wider das Vergessen. Unbedingt lesenswert, so wie auch "Trümmerkind" und "Feldpost". 

Meine Sternebewertung

Julia Georgi bewertet Grenzgänger mit 5 von 5 Sternen

 

 

Hinweis: Das Titelbild benutzt das Cover-Foto des Buches. Die Bildrechte für das Buch, alle Abbildungen und Texte liegen beim Droemer Verlag. Das Buch wurde selbst gekauft. 

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